Das liberale Dilemma: Über Wehrfähigkeit und Kriegstüchtigkeit

Ich kann mich an keine Zeit erinnern, in denen Begriffe wie Wehrfähigkeit und Kriegstüchtigkeit derartig stark in den öffentlichen Diskurs eingedrungen sind. Interessanterweise sind es bei uns nicht rechtskonservative und nationale politische Kräfte, sondern in erster Linie liberale und grüne Parteien, die diesen Diskurs heute befeuern.

Bild von der Anitkriegsaktion am Wiener Ring am 26.10.2025. Im Bild ein Transparent mit der Aufschrift: "Stoppen wir die Kriegsreiber".Es geht mir nicht darum, die tatsächlicher Bedrohungslage durch russische Aggression zu bewerten. Ich möchte aber auf ein schier unauflösbares Dilemma verweisen, in dem sich die genannten politischen Kräfte befinden. Vaterlandsliebe, Nationalismus und Patriotismus galt ja diesen Kräften als etwas, was es zu überwinden gilt. Ich kann dieser Position viel abgewinnen, wenn auch meine politische Haltung eher aus einer sozialistisch-internationalistischen Sicht herrührt. In einer grenzenlosen, liberalen, florierenden Wirtschaft in einem vereinten Europa sollten nationale Chauvinismen der Vergangenheit angehören. Nun ist dieses Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell durch Russland, durch Trump, aber auch durch neoliberale Verbohrtheit, durch eigene Inkompetenz und Fehleinschätzungen in der Tat bedroht. Wer verteidigt nun diese Werte?

Nur die Aufrufe nach Kriegstüchtigkeit verhallen, vor allem bei jenen, die überhaupt mental und körperlich in der Lage wären, in den Krieg zu ziehen. Mir sind keine empirischen Daten bekannt, die die Haltung zu Krieg und Wehrfähigkeit nach sozialer Zugehörigkeit untersuchen. Man braucht sich aber nur jüngste Wahlgänge und Umfragen ansehen, um halbwegs ein Bild zu bekommen.

Meine These: Die aktuellen Aufrufe zur Wehrfähigkeit kommen aus Komfortzonen der Gesellschaft, von Menschen, die die Gewissheit haben, dass sie selbst bzw. ihre Angehörigen nie in den Krieg geschickt werden. Praktisch nie höre ich das von Arbeiter*innen (also jenen, die, wenn es ernst wird, an der Front verheizt werden), selten auch von Unternehmer*innen. Die Kinder der Liberalen und Grünen sind mit Workshops zu gewaltfreier Kommunikation und Diversität aufgewachsen (was ich super finde), aber niemals mit der Option einer realen kriegerischen Auseinandersetzung, an der sie selbst real beteiligt sein könnten.

Aus Überzeugung in einen Krieg zieht man immer noch wegen Vaterlandsliebe und Nationalbewusstsein. Alle Kriege haben bisher so funktioniert. Wo wir wieder beim oben beschriebenen Dilemma angelangt sind. Für die Werte, für die die derzeitige EU steht oder wofür sie von vielen wahrgenommen wird, wird keine*r mit Begeisterung sein Leben aufs Spiel setzen, vor allem nicht jene, die nicht zu den Profiteur*innen der herrschenden Politik zählen. Arbeiter*innen und Angestellte, die aufgrund der fortschreitenden Deindustrialisierung um ihre Jobs bangen, fürchten sich mehr vor einem Arbeitsplatzverlust als vor Russland.

Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Ich halte die rechtspopulistische Politik für die größte Gefahr für unsere Demokratie, glaube aber, dass wir mehr an politischen Lösungen arbeiten und auch eigene politische Positionen in Frage stellen sollten. Putin braucht keinen Krieg mit Europa, wenn sich die politischen Kräfteverhältnisse in der EU weiter so wie in den letzten Jahren verschieben.
Weniger Kriegsgeheul und Aufrüstung, mehr Diskurs über die Ursachen der Krisen und die Möglichkeiten ihrer Überwindung wären wünschenswert.

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