Die “Arbeit hoch!” versus das Recht auf Nichterreichbarkeit

Gedanken zum 1. Mai 2023

Die Hymne der österreichischen Sozialdemokratie als Hymne an die Arbeit schildert die Bedeutung der Arbeit für die Entwicklung der Menschheit. Unter Arbeit verstehen wir heute großteils Lohnarbeit, überwiegend den Verkauf unserer Arbeitskraft, damit Unternehmungen und Aktionär:innen fette Gewinne haben, die sie dann steuerschonend auf unsere Kosten auf der ganzen Welt hin und her schieben können.

Deshalb verkrampft sich bei mir der Magen, wohlwissend um die historische und marxistische Bedeutung von Arbeit, wenn einerseits die Arbeit besungen wird, andererseits Redner in ihren Reden am Rathausplatz in Wien betonen: “Wer über 50 noch etwas leisten will”, für den*die schaffen wir Arbeit. Dabei gibt es die Arbeit zu Hause im Haushalt, bei der Pflege von Familienangehörigen, Kindererziehung, entgrenztes Homeoffice, prekäre Anstellungsverhältnisse, unangemeldete Arbeit, die alles andere als erfüllend ist – ja ich weiß, die ist nicht gemeint.

Die Glühlichter 28. April 1894

Eine Gesellschaft, die auf Leistung getrimmt ist, auf junge dynamische Führungskräfte, die hauptsächlich das Ziel (Gewinn) über alles stellen und denen die Auswahl der Mittel dazu ziemlich egal ist, verliert ein menschenwürdiges Dasein aus den Augen. So nebenbei sind die “Erfahrungen” älterer Arbeitnehmer:innen immer weniger gefragt, denn sie kennen womöglich die Langzeitfolgen dieser ungebremsten Ausbeutung von Menschen und Ressourcen. Heute heißt es nicht umsonst “Human Resource Management”.

Das Recht auf Nichterreichbarkeit

Dieser Titel stammt nicht von mir. Den habe ich von Franz Zeiler, dem Ö1-Redakteur, der die Kolumne zum digitalen Alltag gestaltet. Der dazugehörende Artikel hat mir so gut gefallen, dass ich die Überschrift hier verwende.

Doch jetzt gibt es eine Generation, die auf ihre “work-life-balance” achtet, denen ein gutes Leben für sich und ihre Kinder wichtig ist und die sich dabei nicht krank schuften wollen. Die eher an die Ursprünge der Sozialdemokratie glauben, wie 32 Stunden-Woche, Freizeit, Erholung und Zeit für Regeneration. Ja, früher gab’s die Forderung nach dem 8-Stunden-Tag.

Die Jünger:innen des Arbeits- und Wirtschaftsministers posaunen täglich hinaus, dass wir längere Arbeitszeiten brauchen, obwohl sich die Produktivität verhundertfacht hat. Gleichzeitig gehört er zum rechten Trupp, der bestens integrierte Pfleger:innen, Köch:innen und Kinder abschieben lässt.
Heute würde sich Victor Adler in ein Pflegeheim einschleichen und getarnt als Kassierin in einer Supermarktkette arbeiten. Er würde über das Arbeitsleid in der Pflege, über die Schwere der Arbeit, die Verbürokratisierung der Abläufe und immer höhere Betreuungsquoten berichten. Eine Kassierin, die Tonnen am Tag über den Scanner ziehen muss, die jederzeit vom Einschlichten zur Kasse eilen muss, die sich von unzufriedenen Kund:innen anschnauzen lassen muss. Darüber würde er ebenfalls berichten.

Was würde heute Victor Adler in der “Gleichheit” schreiben?

Sicher würde er nicht dem Leistungsprinzip huldigen. Er würde die Misstände aufzeigen. Er würde auch die Worte des ÖGB-Vorsitzenden, Wolfgang Katzian, bei der Maifeier aussprechen – “Wir finden die Fehler im System”. Er würde dafür eintreten, dass unsere Steuergelder nicht wie ein mehrtägiger, intensiver “Salzburger Schnürlregen”, der Gießkannenvergleich ist eigentlich eine Verniedlichung, über die Unternehmungen und Reichen verteilt werden, sondern dass ein starker Sozialstaat existiert, der uns vor der Ausbeutungsgier der dividendenhungrigen Aktionär:innen beschützt.

Es gibt die Sozialdemokrat:innen und Gewerkschafter:innen, die tagtäglich für diesen starken Sozialstaat kämpfen und noch viele Menschen mehr, die auf das Klima achten, die auf die Folgen des Raubbaus an unserer Erde aufmerksam machen oder für den Frieden eintreten. Sie brauchen eine starke Arbeiter:innenbewegung, ob in Sozialdemokratie, Gewerkschaften oder Vereinen, die nicht nur dem Parlamentarismus huldigen, sondern die uns im Betrieb, auf der Straße und in der Öffentlichkeit gemeinsam mit Institutionen und NGOs vom Neoliberalismus und dem gefräßigen Drachen des Kapitals befreien.

 

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