Ein Buch, dessen Titel mich sofort anspricht, als ich es von einer sehr netten Kollegin geschenkt bekomme. Als ich dann zum zweiten Mal auf den Einband sehe und den Untertitel genau ansehe, frage ich mich, warum es überhaupt eine „neue Kapitalismuskritik“ braucht? Ist denn die alte nicht mehr gut genug? Die Antwort liegt in dem, was von rechts gedrehten Ex-Linken heute gerne als Wokeness bezeichnet wird.
Die in der Einleitung geäußerte Kritik an „der Linken“ gefällt mir jedenfalls sehr gut, da sie das beschreibt, was ich auch oft erlebe: Wir können gut zum Ausdruck bringen, was uns am herrschenden System nicht gefällt, vergessen darob aber im Gegensatz zum Beginn der Arbeiter*innenbewegung, glaubwürdig die Utopie einer neuen Gesellschaft in den Herzen und Köpfen der Massen zu verankern. Der Autor schreibt: „Viele [sog. AM] Linke scheinen sich mit der Alternativlosigkeit einer marktwirtschaftlich organisieren, liberalen Demokratie längst abgefunden zu haben und üben sich in […] Schadensbegrenzung.“ (S. 129).
Dementsprechend haben sie eben keine große Utopie für alle mehr, sondern suchen nach Wegen des individuellen Glücks, wodurch sie in die Falle des Neoliberalismus tappen.
Und hier kommt dann eben das ins Spiel was Rechte und zynische Ex-Linke gerne als Wokeness bezeichnen und als künstlichen Widerspruch zum Klassenkampf postulieren.
In der Regel sind das genau jene, die ebendiesen Kampf längst aufgegeben haben, weil sie mit der Realität eines Kapitalismus, der sich längst nicht mehr auf ökonomische Ausbeutung reduzieren lässt, sondern ein integriertes Unterdrückungs- und Ausbeutungssystem ist, nicht zurechtkommen. Schade, dass der Autor im Kapitel „Linkssein repolitisieren“ ab S. 118 dann selbst den echten harten ökonomischen Klassenkampf der – hier polemisiere ich ein wenig – Gefühlsduselei ‚woker‘ Formen sozialer Unterdrückung entgegenstellt.
Sexismus, Rassismus, Homophobie, … sind denen ein Buch mit sieben Siegeln. Es sind genau diese angeblichen Linken wie das Bündnis Sara Wagenknecht, die vor der rechten Forderung nach Assimilation (meist nett als Integration umschrieben (S. 15)) kapituliert haben und meinen, dass rechtes (sozial) und linkes (ökonomisch) Gedankengut vereinbar wären.
Letztlich sind sie vor rund 100 Jahren ideologisch hängen geblieben und haben den ökonomistischen Zugang des Stalinismus – auch wenn sie sich als Trotzkist*innen, Autonome, Anarchist*innen oder was auch immer gerieren – zum Klassenkampf nie überwunden. Sie übersehen dabei, dass sich hier großartige Anknüpfungspunkte für einen Kampf gegen das System bieten, der den ökonomischen Klassenkampf nicht wie sie oftmals behaupten ersetzen soll, sondern bestens ergänzt.
Basierend auf zentralen Begriffen der marxistischen politischen Ökonomie argumentiert der Autor sodann für eine Repolitisierung mehrerer wesentlicher Politikfelder wie Armut, Glück, Klimakrise, Demokratie, Linkssein und das gute Leben. Wohltuend dabei ist die Aufnahme neuer Themen, die in der Linken sonst eher keine Rolle spielen wie etwa Glück.
In diesen Kapiteln argumentiert der Autor stringent, dass sich in diesen Feldern im Rahmen des Kapitalismus keine wesentlichen Fortschritte ergeben können. Die dabei verwendeten Erkenntnisse sind großteils nicht besonders neu, bieten aber ein paar sehr aktuelle Zahlen. Wirklich lesenswert macht diese Teile die Tatsache, dass sie im Gegensatz zur üblichen Elfenbeintürmelei vieler Linker in einer Sprache formuliert sind, die allgemeinverständlich ist.
„Liberale Demokratie ist Kapitalismus plus Wahlen, mehr nicht.“ (S. 99) Spannend ist also auch seine Kritik an der repräsentativen Demokratie, welche zur PR-Maschine verkommt, statt den Vielen tatsächliche Partizipation zu ermöglichen (S. 48-50, 107) und die Definition von ehrenamtlichen Helfer*innen als „Prisoners of Love“ (S. 52-54) ohne diese wie die o.g. Zyniker*innen abzuwerten.
Dass mir besonders gut gefällt, dass der Autor Streiks von systemrelevanten Lohnabhängigen in den Bereichen Soziales, Gesundheit, Elementarpädagogik, … die die Gesellschaft tatsächlich lahmlegen können (S. 112), als wesentlich für die Redemokratisierung der Gesellschaft erklärt, bedarf wohl keiner besonderen Erwähnung.
Ebenso passend pointiert er die Kritik an den mittlerweile oft von Firmen angebotenen Selbsthilfeworkshops usw., welche uns dabei helfen sollen, besser mit dem Stress in der Arbeit zurechtzukommen statt diesen einfach zu reduzieren (S. 59-61), was gut zur bereits genannten individualisierten Suche nach dem Glück – genannt Selbstverwirklichung – die dadurch ebenfalls zur Ware wird (S. 69f) passt. Wohltuend überspitzt paraphrasiert der Autor dazu Marx: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt aber darauf an, sie wegzuatmen.“ (S. 67)
Denen, die die Klimakrise aus egoistischen Gründen ignorieren, wirft er ein autoritäres, ja totalitäres Verständnis von Freiheit vor, einen infantilen Drang nach Freiheit und infantilen Kulturkampf, vergisst dabei aber auch nicht festzuhalten, dass diese systemisch gelöst werden muss. (S. 82-98)
Den Autor (S. 20) paraphrasierend, um unsere politischen Ziele und die sich daraus ergebenden Forderungen und Handlungen zu definieren, können wir uns alle selbst fragen, was wir wirklich wollen: Die Herrschaft nur neu gestalten oder abschaffen?
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