Russisch-ukrainische Aktivist*innen gemeinsam gegen den Krieg

Auf der Antikriegskonferenz am 05.10.2025 in Paris haben die russischen Aktivistin Liza Smirnova und der ukrainischen Aktivist Andrei Konovalov gemeinsam das Wort ergriffen, das sie sonst nicht bekommen. Sie sind nämlich Mitglieder des internationalistischen Netzwerks „Frieden von unten“, das sich prinzipiell gegen Krieg stellt und sich weigert in diesem sinnlosen Krieg eine Seite zu beziehen. Sie sind Unterzeichner*innen des russisch-ukrainischen Aufrufs gegen den Krieg. Wir veröffentlichen hier Auszüge aus ihrem Input, um aufzuzeigen, dass es sowohl in Russland als auch der Ukraine Widerstand gegen diesen sinnlosen Krieg gibt, was die hiesigen Medien nahezu vollständig ignorieren. In die gleiche Kerbe schlagen auch die folgenden Wortmeldungen des ukrainischen Aktivisten Andrei Lebediev und des russischen Aktivisten Aleksander Voronkov auf derselben Konferenz.

Liza Smirnova: „Was wir heute tun, ist für Putins Diktatur viel gefährlicher als die Bomben und Raketen, die Macron, Scholz, Merz oder Trump an die Front schicken.“

Haben Sie gesehen, wie sich Donald Trump in den letzten Wochen verändert hat? Er hatte versprochen, ein Abkommen zu unterzeichnen und Frieden zu stiften, und jetzt bezeichnet er Russland als Papiertiger und schickt Atom-U-Boote vor dessen Küsten. Sein Kriegsminister sagt zu seinen Generälen: „Wir bereiten uns auf den Krieg vor und wir bereiten uns auf den Sieg vor.“ Die Strategie des Abkommens ist also gescheitert.

Das heißt, der zynische und imperialistische Frieden zwischen den Großmächten auf Kosten der Völker hat nicht funktioniert. Die Widersprüche sind zu groß.

Liza Smirnova und Andrei Konovalov auf der Antikriegskonferenz am 05.10.2025 in Paris

Und nun stehen wir vor einem endlosen Krieg. Auch die jungen Menschen in Russland sehen das so.

Für sie dauert der Krieg bereits seit 43 Monaten. 250.000 bis 300.000 Menschen sind gestorben, und Hunderttausende sind zu Invaliden geworden. Umfragen zeigen, dass drei Viertel der russischen Bevölkerung sofortige Verhandlungen und ein Ende des Gemetzels wollen.

An der Front ist die Erschöpfung noch größer. Die Soldaten sind erschöpft, wie ihre Tagebücher, Briefe und Gespräche untereinander zeigen. Die Zahl der Deserteure steigt. Aber warum verwandelt sich diese Erschöpfung nicht in Protest gegen den Krieg?

Auf diese Frage gibt es mehrere Antworten. Die erste ist, dass die russischen Behörden die neoliberalen Techniken perfektioniert haben. Heute unterzeichnen arme Menschen Verträge mit der Armee, die nicht gekündigt werden können und sie praktisch zu Sklaven für Geld machen. Für den Tod eines Soldaten erhält seine Familie mehr als das Lebensgehalt eines Arbeiters oder einer Arbeiterin. Armut und Ungleichheit haben nicht nur das menschliche Leben zu einer Ware gemacht, sondern auch den Tod selbst.

Das zentrale Element des Systems ist sein Unterdrückungsapparat. Jede Abweichung führt ins Gefängnis. Jeder Versuch, sich gegen die Ungerechtigkeit an der Front zu wehren, wird mit Folter und oft mit dem Tod bestraft. […] Natürlich ist Geld die Grundlage für Putins Militärmaschine. Aber ohne Hoffnung auf Frieden, also auf Leben, funktioniert auch Geld nicht.

Schließlich richteten sich alle Hoffnungen auf Trump und seinen Deal mit Putin. Egal welcher, Hauptsache, dieser Albtraum hat ein Ende.

Heute ist diese Hoffnung dahin. […] Ich weiß, dass viele von Euch als nützliche Idioten Putins bezeichnet wurden, als sie sich gegen die Militarisierung eurer Länder gewehrt haben. Schließlich verhalten sich die herrschenden Klassen hier im Westen fast wie die russische Oligarchie. Sie rufen dazu auf, den Gürtel enger zu schnallen, um den äußeren Feind zu besiegen. Und wenn wir nicht zustimmen, werden wir als Agent*innen des Auslands bezeichnet. Wie in Russland wird für Starmer, Macron oder Trump der Krieg zu einem Mittel, um ihre Macht zu erhalten, oft zum Nachteil der Demokratie.

Aber Putin fürchtet keine militärische Niederlage. Im schlimmsten Fall verfügt er über die Atombombe. Jede Eskalation kann seine Macht nur stärken.

Deshalb ist das, was wir heute tun, für seine Diktatur viel gefährlicher als die Bomben und Raketen, die Macron, Scholz, Merz oder Trump an die Front schicken.

Wir wollen unserem Volk das bieten, was seine Führer*innen ihm verweigern. Das ist die entscheidende Frage, nicht der Sieg, sondern genau genommen der Frieden, das Ende des Gemetzels. Und das ist es, was die Mehrheit der Russen denkt, vor allem in den Schützengräben. (…) Für uns Russen gibt es ein besonderes Datum, den 19. Jännuar, den Gedenktag für ermordete Antifaschist*innen und Opfer politischer Repression. Heute sind die Hauptopfer der Repressionen die Deserteure. Und ich möchte mit Stolz sagen, dass sich einer der russischen Deserteure unserer russisch-ukrainischen Koalition angeschlossen hat. Er ist heute hier bei uns, es ist Ilya Zaripov. Wir könnten diesen Tag zu einem Tag der Solidarität mit den Deserteuren und Kriegsgegner*innen machen, die Opfer von Repressionen sind. Solidarität mit ihnen wäre ein konkreter Beitrag zur Herbeiführung von Veränderungen in Russland. Nur diese Veränderungen werden echten Frieden bringen.

Andrei Konovalov: „Allein in den ersten sechs Monaten dieses Jahres gab es in der Ukraine 125.000 neue Fälle von Desertion oder Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen.“

Nach Angaben des ukrainischen Verteidigungsministeriums wurden etwa drei Viertel der Soldaten an der Front zwangsweise und nicht freiwillig mobilisiert. Und wie die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte im November 2024, dem Monat, in dem dieser Bericht veröffentlicht wurde, berichtete, griffen Rekrutierungsoffiziere im Rahmen dieses Mobilisierungsprozesses zu Folter, Schlägen, Würgen und Strangulieren. Diese Methoden führen zu surrealen Szenen.

Fast täglich wird die ukrainische Gesellschaft von Fotos erschüttert, auf denen Mütter die geschundenen Leichen ihrer Söhne zeigen, die von Militärrekrutierern verschleppt und später fälschlicherweise als an einem Herzinfarkt oder Schlaganfall verstorben gemeldet wurden. Und die Forderungen dieser Familien nach Gerechtigkeit bleiben natürlich unbeantwortet.

Letztes Jahr habe ich eine Abgeordnete des Deutschen Bundestages, die Mitglied der Regierungskoalition ist, zu diesem Bericht befragt, der diese Folterungen dokumentiert. Sie sah mir vor mehreren Zeugen direkt in die Augen und sagte: „Wir wissen und diskutieren alles, was in der Ukraine vor sich geht, aber wir werden es niemals öffentlich machen.“ […] In einem Punkt haben diese Politiker*innen recht: Die Demokratien sind weltweit in Gefahr. Aber wir müssen klar sagen: Die Gefahr geht nicht von einer bestimmten Nationalität, Kultur oder Religion aus.

Die wahre Gefahr ist die extreme soziale Ungleichheit, die profitgesteuerte Kriegstreiberei und die selektive Anwendung grundlegender Menschenrechte. Und die einzige Möglichkeit, dieser Gefahr zu widerstehen, besteht darin, Spaltungen abzulehnen, die Dämonisierung ganzer Völker zu beenden und die Rückkehr zu einem realistischen Dialog, zu Kompromissbereitschaft und zur Berücksichtigung der Sicherheitsbedenken aller Seiten zu fordern. […] Meine Organisation, unsere Organisation, die Allianz der postsowjetischen Linken, vereint Kriegsdienstverweigerer, Deserteure und politische Exilant*innen aus Russland und der Ukraine, die in engem Kontakt mit geheimen und verfolgten Antikriegsgruppen auf beiden Seiten des Konflikts stehen. Wir sammeln und systematisieren Beweise für die Verstöße und Repressionen, die unsere Länder zerreißen, und wir sind immer bereit, glücklich und dankbar, diejenigen zu unterstützen, die unseren Kampf teilen.

Und was die Ukraine betrifft: Laut dem Generalstaatsanwalt der Ukraine gab es allein in den ersten sechs Monaten dieses Jahres 125.000 neue Fälle von Desertion oder Kriegsdienstverweigerung. […]. Waffenlieferungen und dieser Krieg selbst haben nichts mit Freiheit zu tun, sie haben nichts mit Demokratie zu tun, und sie haben nichts mit den Interessen des ukrainischen Volkes oder denen des ukrainischen Staates zu tun. Sie dienen nur einem einzigen Zweck: den Interessen der transatlantischen neokonservativen Clique, meine lieben Freund*innen.

Und schließlich, wenn sie behaupten, dass die Unterstützung dieses Krieges – oder irgendeines Krieges – die Verteidigung der Europäer~innen und ihrer Rechte sei, möchte ich ganz klar sagen: Kein*e Europäer*in kann wirklich auf seine Rechte vertrauen, solange die Menschen- und Demokratierechte nicht für alle gelten.

Andrei Lebediev „Für diese Menschen ist der Krieg ein Segen“

Es besteht kein Zweifel daran, dass die Hauptverantwortung für diese Katastrophe bei Wladimir Putin liegt, der mein Land besetzen will. Das weiß jede*r, aber ich möchte noch zwei weitere Verantwortliche für diese Katastrophe nennen, die meist vergessen werden. Da sind zunächst einmal die herrschenden Klassen der westlichen Länder.

Sie betrachteten die Ukraine als Verhandlungsmasse in ihrem geopolitischen Spiel. Sie unterstützten korrupte neoliberale Regierungen, die den Nationalismus instrumentalisierten und die Gegensätze zwischen den Ukrainer*innen in Bezug auf Sprache und Kultur schürten. Sie unterstützten aktiv den rechten Staatsstreich auf dem Maidan im Jahr 2014, der das Land an den Rand eines Bürger*innenkrieges brachte.
Sie sprachen von Freiheit und Wohlstand, nutzten die Ukraine jedoch zynisch als Kolonie, als Quelle für Ressourcen und billige Arbeitskräfte.

Auch heute noch nutzt Donald Trump die dramatische Lage meines Landes aus, um ihm ein völlig demütigendes Kolonialabkommen aufzuzwingen, durch das der größte Teil des nationalen Reichtums und der Ressourcen in den Besitz des amerikanischen Kapitals übergegangen ist. Für die derzeitigen europäischen Regierungen ist die Ukraine ein Instrument im Kampf um die geopolitische Vorherrschaft mit Russland. Der Tod von Ukariner*innen interessiert sie nicht.

Zum anderen liegt ein Teil der Verantwortung bei der Regierung von Wolodymyr Selenskyj und der ukrainischen herrschenden Klasse. Für die meisten Ukrainer*innen bedeutet jeder Tag des Krieges neue Tote und neues Leid, aber all die Jahre haben viele Unternehmen enorme Gewinne aus Militäraufträgen gezogen.

Für diese Leute ist der Krieg ein Segen. Und sie wollen nicht, dass er endet. Sie verfügen über eine mächtige Waffe: die nationalistische Ideologie. Dabei geht es nicht nur um die extreme Rechte, die einen erheblichen Einfluss im Land und in der Armee hat. Sondern auch zum Beispiel um die Kriegsziele.

Aleksander Voronkov „Der Gesellschaft wieder eine politische Alternative geben”

Der internationale Kontext des aktuellen Krieges ist ebenfalls wichtig. Heute ist Militarisierung ein Mittel, um die Macht im Osten, im Westen und in den Ländern des Südens aufrechtzuerhalten. Die Rhetorik der „Verteidigung der Freiheit“ und der „Haushaltsdisziplin“ in Europa und den Vereinigten Staaten findet ihr Echo im „Kampf um Souveränität“ und in der „Mobilisierung“ in Russland.

Militärblöcke und Wirtschaftseliten finden leicht eine gemeinsame Basis, wenn die Begriffe „Frieden“ und „Demokratie“ durch „Krieg“ und „Diktatur“ ersetzt werden. Unsere Aufgabe besteht daher darin, der Gesellschaft wieder eine politische Alternative zu bieten: Wir brauchen Frieden als Mittel zur Demokratisierung und nicht als „Abkommen zwischen Eliten“.

Unser Ausgangspunkt ist einfach, aber konsequent: Ein sofortiger Waffenstillstand als Voraussetzung für die Einleitung eines demokratischen und dauerhaften Friedens. Weder ein „Einfrieren, um Zeit zu gewinnen“ noch eine „totale Niederlage“ werden das Problem lösen: Ersteres wird zu einem neuen Massaker führen, während Letzteres eine nukleare Eskalation zur Folge haben könnte.

Eine dauerhafte Lösung ist nur möglich, wenn beide Seiten und die betroffenen Gesellschaften eine Zukunft sehen, die besser ist als die Gegenwart. Deshalb brauchen wir heute einen demokratischen Frieden zwischen den Nationen und nicht zwischen den derzeitigen Regierungen.

Soziale Gerechtigkeit als Grundlage für Frieden. Die Kosten des Krieges müssen von denen getragen werden, die ihn organisiert und davon profitiert haben: Hohe Beamt*innen, Sicherheitskräfte, Oligarch*innen und Propagandist*innen.

Die Beschlagnahmung von Supergewinnen und die Übertragung von Schlüsselvermögen in den öffentlichen Sektor unter demokratischer Verwaltung durch die Arbeiter*innenklasse, sind notwendig, um die materiellen Grundlagen der Diktatur zu beseitigen. Die politische Demokratisierung ist untrennbar mit der sozialen und wirtschaftlichen Demokratisierung verbunden.

Wir schlagen außerdem vor, den 19. Januar zu einem Gedenktag für Antifaschist*innen und Opfer politischer Repression in den postsowjetischen Ländern zu machen, zu einem gemeinsamen Tag der Solidarität mit Deserteuren und Kriegsdienstverweigerern auf beiden Seiten der Front.

Die ersten beiden Wortmeldungen wurden auf Deutsch bereits hier veröffentlicht und leicht an den österreichischen Sprachgebrauch angepasst.

Die dritte und vierte Wortmeldung wurden zuerst hier auf Französisch veröffentlich und von uns übersetzt.

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