Bei der großen Antikriegskonferenz am 05. Oktober 2025 gab es, was es gar nicht so selten gibt: Eine Israelin und eine Palästinenserin sind gemeinsam aufgetreten. Und nicht nur das – sie haben auch noch die gleiche Position vertreten. Gegen den Krieg – für den Frieden! Ein guter Grund, unseren Leser*innen, Auszüge ihrer Reden hier zugänglich zu machen.
Mahaseen Abed Alhadi: „Wir haben uns gegen Netanjahu und Ben Gvir gewehrt und werden weiterhin demonstrieren und protestieren“
Ich möchte zunächst auf den sogenannten Friedensplan eingehen, den US-Präsident Trump nach der Zerstörung Gazas vorgelegt hat, vor allem aber vor dem Hintergrund eines beispiellosen Aufschwungs der Proteste weltweit und in einer Situation, in der der Staat Israel mit großen Schwierigkeiten konfrontiert ist. […] Mit diesem Plan werden wir von einem Völkermord durch Bomben zu einem Völkermord durch Isolation übergehen, wobei die Palästinenser*innen in verstreuten Bantustans geparkt werden. Viele glauben, dass Trumps Plan und seine Rede über Gaza nur eine Falle sind, um die Palästinenser*innen zu entmutigen.
Aber alle in Palästina wollen dem Völkermord ein Ende setzen! Und natürlich hoffen wir, dass sich die Dinge in die richtige Richtung entwickeln werden. Sicher ist, dass eine neue Phase bevorsteht und dass es den höchsten Kreisen des Weltimperialismus nicht gelingen wird, den Freiheitsdrang und den Wunsch nach Rückkehr des palästinensischen Volkes zu unterdrücken. […] Als palästinensische Gewerkschafterin ist es mir wichtig, die Frage der palästinensischen Arbeiter*innenklasse und die verheerenden Auswirkungen dieses Krieges auf die arbeitenden Massen hervorzuheben. Bis zum 7. Oktober 2023 arbeiteten 125.000 palästinensische Arbeiter~innen aus dem Westjordanland und dem Gazastreifen mit Einreiseerlaubnis in Israel. Etwa 80.000 palästinensische Arbeiter*innen taten das ohne Erlaubnis.
Am 8. Oktober entzog Israel allen palästinensischen Arbeiter*innen ihre Einreiseerlaubnis. Nach Aussagen und Berichten, die unsere Gewerkschaft von Arbeiter*innen aus dem Gazastreifen gesammelt hat, wurden hunderte Arbeiter*innen, die nicht ins Westjordanland gelangen konnten, in Militärlagern festgehalten und anschließend von den Besatzungssoldat*innen misshandelt und gefoltert. Dutzende von ihnen wurden in israelischen Gefängnissen getötet.
Erwähnenswert sind auch die zunehmenden Übergriffe von Siedler*innen im Westjordanland, die Zerstörung von Häusern und die Drohungen mit Annexion. Der brutale Krieg Israels beschränkt sich nicht nur auf die Palästinenser*innen im Gazastreifen und im Westjordanland, sondern erstreckt sich auch auf die palästinensischen Araber*innen, die nach der Nakba 1948 in ihrer Heimat geblieben sind. […] Aber trotz dieser Unterdrückung und Repression haben wir uns gegen Netanjahu und Ben Gvir gewehrt und demonstrieren und protestieren weiter. Erst gestern fand in der Stadt Sakhnin innerhalb der Grünen Linie [also innerhalb Israels selbst – Anmkerung der Übersetzung] eine Massendemonstration statt, die größte seit Oktober 2023. […] Diese Solidarität macht uns Palästinenser~innen stärker und entschlossener, für unser legitimes Recht auf Rückkehr, Freiheit und Unabhängigkeit in Palästina zu kämpfen. Bei dieser Gelegenheit möchte ich die Held*innen der Flottilla des Widerstands würdigen, die von der israelischen Polizei festgenommen wurden und von denen mehrere gestern inmitten einer Welle der Empörung, die über die Länder der ganzen Welt hinwegrollt, freigelassen wurden.
Ich möchte auch alle jüdischen Kräfte und linken Stimmen in Israel würdigen, die auf die Straße gehen, um ein Ende des Krieges und der Hungersnot in Gaza zu fordern. […] Was sich in der weltweiten Solidaritätsbewegung ausdrückt, die sich zu einer globalen Bewegung gegen die mitschuldigen politischen Führungen im jeweiligen Land entwickelt, ist die Erkenntnis, dass es keine Freiheit für die Völker der Welt geben wird, solange die Palästinenser*innen unter dem Joch der Unterdrückung leben.
All dies bestärkt uns in unserer Überzeugung, dass die Lösung eines einigen demokratischen Staates in Palästina, vom Fluss bis zum Meer, die einzige ist, die es den Palästinenser*innen und Jüd*innen Israel ermöglichen wird, in Freiheit, sozialer Gerechtigkeit und Frieden zu leben, ohne Verfolgung, ohne Rassismus und ohne Segregation. „Palästina wird frei sein vom Fluss bis zum Meer“ ist zu einem weltweiten Slogan geworden. Es gibt keinen anderen Weg für die Palästinenser*innen, für die freien Jüd*innen und für die Völker, die in Freiheit leben wollen. Ich grüße Sie und danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. Es lebe die internationale Solidarität mit Palästina. Es lebe der Kampf unseres palästinensischen Volkes für Rückkehr, Freiheit und Unabhängigkeit.
Orly Noy: „Ein Kampf zwischen denen, die Mauern errichten, und denen, die sie niederreißen”
Wir kommen in seltsamen Zeiten zusammen – nach zwei Jahren der systematischen Vernichtung einer Zivilbevölkerung, der Hungersnot, der wehrlose Kinder ausgeliefert werden, eines Völkermords, der live vor den Augen der Welt stattfindet, klammern wir uns an die Hoffnung, dass dieses Grauen vielleicht endlich ein Ende hat. Nicht weil wir an die Reinheit der Absichten der beiden Verbrecher glauben, die dieses Abkommen geschlossen haben – beide sollten in Den Haag vor Gericht stehen –, sondern weil Hoffnung eines der wichtigsten Werkzeuge in unserem Kampf ist. […] Früher oder später wird der Völkermord in Gaza ein Ende haben, und erst dann werden wir das Ausmaß der Katastrophe ermessen können, die Israel diesem Landstrich zugefügt hat. Wir müssen uns auf diesen Tag vorbereiten und auf das, was dieser von jedem von uns verlangen wird.
Der Tag danach wird von vielen eine tiefgreifende Selbstreflexion verlangen – in erster Linie von der israelischen Öffentlichkeit. Wir müssen alle Prozesse der Entmenschlichung der Palästinenser*innen, die die israelische Gesellschaft im Laufe der Jahrzehnte durchgemacht hat, gründlich untersuchen und Rechenschaft ablegen für Rassismus, Rassengesetze, Landraub, ethnische Säuberungen, wahllose Morde, Blockaden, Demütigungen, kulturelle Auslöschung und vieles mehr.
Ohne diese Aufarbeitung und ohne Strafverfolgung und Bestrafung der Verbrecher*innen wird keine neue Realität möglich sein.
Aber auch die Regierungen weltweit müssen zur Rechenschaft gezogen werden: Dafür, dass sie Israel jahrzehntelang erlaubt haben, ein offenes Apartheidregime zu errichten, und es dennoch weiterhin als Demokratie bezeichnen; dafür, dass sie Israels unvorstellbare Gewalt über die Jahre hinweg unterstützt, es bewaffnet und ihm einen Ehrenplatz im Club der demokratischen Staaten erhalten haben; weil sie auch heute noch die institutionalisierte und alltägliche Gewalt gegen die Palästinenser*innen im Westjordanland sowie die rassistische und systemische Diskriminierung der palästinensischen Staatsbürger*innen Israels innerhalb der Grenzen von 1948 ignorieren. Das Blut der Opfer des Völkermords in Gaza klebt auch an ihren Händen. […] Politische Vorstellungkraft ist wichtig, wie im Zusammenhang mit der jüngsten Anerkennung des Staates Palästina durch mehrere Länder.
Nach zwei Jahren der Vernichtung ist die Vorstellung, dass eine solche symbolische Geste ohne wirkliche Bedeutung als ausreichende Maßnahme angesehen werden kann, eine Beleidigung und ein beschämender Versuch, unsere politische Vorstellungskraft einzuschränken. Das können wir nicht akzeptieren. All diese Staaten verfügen über weitaus wirksamere Instrumente, um die israelische Vernichtungsmaschinerie zu stoppen. Wir fordern, dass diese Instrumente eingesetzt werden.
Eine kühne und wirksame politische Vorstellungskraft weigert sich, sich den Spaltungen zu unterwerfen, die uns diejenigen auferlegen wollen, die nur ihre eigenen Interessen verteidigen. Eines der Dinge, die das israelische Apartheidregime am meisten fürchtet, ist das Überschreiten der Grenzlinien zwischen den beiden Völkern, die auf diesem Land leben. Deshalb müssen wir diese Grenzlinien neu definieren: nicht Jüd*innen gegen Palästinenser*innen, sondern Anhänger*innen von Freiheit und Gleichheit gegen Unterdrücker*innen, Suprematist*innen und Rassist*innen. Ein Kampf zwischen denen, die Mauern errichten, und denen, die sie niederreißen. […] Letztendlich wird der Völkermord in Gaza ein Ende finden, aber in vielerlei Hinsicht wird unsere Arbeit am nächsten Tag erst beginnen: Das israelische Apartheidregime zu zerschlagen und an seiner Stelle einen Raum der Gleichheit, Würde und Freiheit für alle Bewohner*innen dieses Landes zu schaffen.
Unsere Waffen in diesem andauernden Kampf werden unsere moralische Überlegenheit, unser Mut, unsere politische Vorstellungskraft und unsere Solidarität sein. Es wird eine schwierige Aufgabe sein, aber wir dürfen nicht scheitern. Für die kommenden Generationen, palästinensische und jüdische.
Mahaseen Abed Alhadi ist israelische Palästinenserin, Gewerkschafterin und Mitglied der jüdisch-arabischen Vereinigung Standing Together, die an der Spitze der Proteste gegen den Krieg in Gaza und innerhalb Israels steht.
Orly Noy ist israelische Journalistin und Chefredakteurin der hebräischen Website Local Call sowie Vorsitzende des Exekutivrats von B’Tselem (israelische Menschenrechtsorganisation, die seit 30 Jahren die Verbrechen der militärischen Besatzung und des Apartheidregimes Israels dokumentiert).
Dieser Text erschien zuerst hier und wurde von uns an den österreichischen Sprachgebrauch angepasst.
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